20.01.2008

Kinderarmut

Fürsorgepflicht statt Finanzierung

Von Christine Brinck

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20. Januar 2008 Familien mit wenigen Kindern nannte man früher kinderarm. Kinderreichtum war die Segnung mit vielen Kindern. Kinderarmut war nicht die Armut von Kindern, sondern die Armut an Kindern. Da wäre dann Deutschland insgesamt ein Land der Kinderarmut mit seiner Geburtenrate von 1,3. Doch der Begriff steht nun für arme Kinder. Indes sind arme Kinder ja keine Gruppe, die für sich arm ist. Kinder haben kein Einkommen, können ihre Lage nicht aus eigener Kraft verbessern, sie sind vielmehr Teil eines Gefüges, das gemeinhin Familie genannt wird. Arme Kinder leben in armen Familien. Arm sind Eltern und Kinder für gewöhnlich gemeinsam.

Ist die kleine Lea-Sophie aus Schwerin verhungert, weil ihre Familie arm war? Oder Jessica aus Hamburg? Die Familien beider Kinder lebten zwar nicht in Saus und Braus, aber Not wie in Flüchtlingslagern der Dritten Welt, aus denen wir den Anblick hungernder Kinder kennen, litten diese Familien nicht. Sie hatten ein Dach über dem Kopf, ihren eigenen Wohnungsschlüssel, Blumen auf dem Balkon, und Lea-Sophies Eltern hatten neben einem gutversorgten Baby sogar Hunde und Katzen, die wohlgenährt waren. Armut, die zum Verhungern führt, sieht anders aus.

Arm ist, wer wenig Geld hat

Armut, auch die von Kindern, wird vor allem materiell definiert. Arm ist, wer wenig Geld hat. Die statistische Armutsgrenze liegt in Deutschland bei weniger als 60 Prozent des durchschnittlichen Haushaltsnettoeinkommens. Bei der Präsentation des „Kinderreports Deutschland 2007“ stellte der Präsident des Kinderhilfswerks, Thomas Krüger, fest, dass mittlerweile 2,5 Millionen Jungen und Mädchen auf Sozialhilfegeld angewiesen seien.

Das heißt, dass eins von sechs Kindern unter 18 Jahren als arm bezeichnet werden kann. Freilich gibt es große regionale Unterschiede: In Bayern ist der Anteil der Kinder, die Sozialleistungen erhalten, mit 6,6 Prozent recht niedrig, in Berlin hingegen mit 30,7 Prozent erschreckend hoch. Bayern ist ein Flächenstaat mit großen ländlichen Gebieten und einem hohen Anteil an intakten Familien mit guter Vernetzung in Dörfern und Kleinstädten, Berlin zeigt die üblichen Probleme von Großstädten mit ihren ghettoisierten Stadtteilen.

Kinder machen keine Schulden

Nach Angaben des Kinderhilfswerks Unicef wächst die Armut von Kindern in Deutschland stärker als in anderen Industrieländern. Und die Rate der armen Kinder erhöht sich schneller als die der armen Erwachsenen. Das erscheint nur auf den ersten Blick widersinnig, denn neben den Kindern in Zuwandererfamilien leiden vor allem die Kinder Alleinerziehender unter Armut. Sechzig Prozent der Kinder, die Sozialgeld erhalten, wohnen mit nur einem Elternteil, die meisten davon mit ihren Müttern. Berlin hält dabei ebenso die Spitze wie bei der Verschuldung. An der Spree sind die Schuldenprobleme privater Haushalte knapp 30 Prozent stärker ausgeprägt als im Bundesdurchschnitt. Kaum überraschend - Schulden und Armutsrisiko sind bei denselben Gruppen angesiedelt: Alleinerziehenden, unter Vierundzwanzigjährigen und Geringverdienern.

Kinder machen keine Schulden, kaufen nicht auf Raten, es sind ihre Erziehungsberechtigten, die das tun und dabei auch noch draufzahlen. Kinder kaufen keine Flachbildschirme, entscheiden nicht, ob sie in der Sandkiste oder vor der Glotze aufwachsen. Wenn sie wählen könnten, lebten sie mit beiden Eltern und nicht so häufig bei Alleinerziehenden. Kinder sind finanziell von ihren Eltern abhängig, egal ob diese staatliche Transferleistungen beziehen oder nicht. Die Eltern bezahlen die Miete, den Kindergarten, die Windeln. Genau darum ist es unsinnig, die Armut der Kinder isoliert zu betrachten. Schließlich haut kein Kleinkind sein Kindergeld für Gummibärchen auf den Kopf, statt sich Pampers und Karotten zu kaufen.

Amerika: Alleinerziehende in der Armutsfalle

Ernüchtert und irritiert bemerkt der Betrachter, dass am unteren Rand sämtliche Reformen nichts gebracht haben. Die Armen bleiben arm. Der Aufschwung und der Rückgang der Arbeitslosigkeit gehen an den Bezirken, in denen ein Viertel bis ein Drittel der Einwohner von staatlichen Leistungen lebt, spurlos vorbei.

Amerikanische Sozialforscher haben ähnliche Entwicklungen schon in den neunziger Jahren beobachtet, als der robuste Aufschwung den unteren Rand gar nicht berührte - die Teilhabe am Arbeitsmarkt ging auch dort eher zurück. Anders als in den boomenden sechziger Jahren, als in den Vereinigten Staaten der breite Aufstieg in die Mittelklasse gelang, scheint mittlerweile eine verarmte Unterschicht zementiert. Durch soziale und staatliche Maßnahmen ist diese weniger leicht zu beeinflussen, als Sozialingenieure träumten. In Amerika ist vor allem die Armut der Schwarzen gut erforscht und ihre Ursachen - die zerbrochene Familie. Es sind auch dort die Alleinerziehenden, die in der Armutsfalle stecken, aber - anders als bei uns - nicht so sehr die Einwanderer. Selbst ungelernte hispanische und asiatische Einwanderer sind sehr viel besser in der Lage, einen Job zu bekommen und zu halten.

Arbeit zu finden setzt Disziplin voraus

So hält die wohlfeile Annahme, dass es sich meistens nur um ein Missverhältnis zwischen ungelernten Arbeitern und dem Angebot an Arbeitsplätzen für sie handelt, einer genaueren Betrachtung nicht stand. Die alljährlichen Geschichten aus der Welt unserer Spargelbauern bestätigen das auch für den deutschen Alltag: Die polnischen Arbeiter stechen den Spargel für weniger Geld und mit längeren Arbeitszeiten und ziehen am Ende der Saison mit ihrem Lohn von dannen. Die deutschen Arbeiter, die von Arbeitsämtern entsendet wurden, gaben auf, klagten über unmögliche Härte und Dauer der Arbeit und schafften nur einen Bruchteil dessen, was die polnischen Kollegen erledigten.

Großes Können ist nicht nötig, um nicht in Armut zu versinken. Eine Arbeit zu finden und zu behalten setzt hauptsächlich persönliche Disziplin voraus. Menschen, die freilich in der zweiten oder dritten Generation erleben, dass man auch ohne Arbeit überleben kann, lernen diese Selbstdisziplin nicht. Wie sehr es daran mangelt, zeigen auch die hohen Abbrecherzahlen bei Auszubildenden. Solche, die schon in der Schule immer zu spät kamen oder häufig schwänzten, werden in einem Ausbildungsbetrieb schnell untragbar.

Arme Kinder leben ungesünder

In sogenannten Wohlfahrtsdynastien wird derlei Verhalten eingeübt, arme Kinder sind darum nicht so sehr materiell benachteiligt, sondern vor allem kulturell. Weil sie um sich herum kaum Gelegenheit haben, Eigenschaften zu beobachten, die sie aus der Armut erlösen könnten. Weil mit ihnen weniger gesungen, gereimt, gespielt, geturnt und gesund gegessen wird, sind sie schon beim Eintritt in den Kindergarten weniger entwickelt als andere Kinder, erst recht aber beim Eintritt in die Grundschule.

Das Risiko für ein Kind, arm zu sein, besteht nicht in der Abwesenheit von Markenartikeln und Playstations, das Risiko liegt in der Entbehrung von Zuwendung und Anregung. Die Schere, über die allenthalben auch im Pisa-Zusammenhang geklagt wird, tut sich nicht erst bei der Auslese fürs Gymnasium auf, sie steht schon weit offen, wenn ein Kleinkind indifferent behandelt wird, wenn den Eltern das Premiere-Abo und der Anruf bei „Call a Pizza“ ersprießlicher erscheinen als ein Nachmittag auf dem Spielplatz oder eine Stunde mit dem Kind auf dem Schoß und einem Bilderbuch dazu.

Arme Kinder sind ungesünder und bewegungsärmer. Das freilich liegt heute nicht an feuchten Hinterhofwohnungen à la Zille, das liegt an der Lethargie ihrer Eltern, an der ungesunden Fertigkost, die diese bevorzugt zu sich nehmen, und an ihrer mangelnden Kommunikationsfähigkeit. Sie reden nicht untereinander, sie reden nicht mit ihren Kindern, sie holen sich ungern Rat und gehen auch nicht gern zum Arzt.

Fachleute: Investition in die Erziehung kleiner Kinder

Hilfe zur Selbsthilfe hat in der Entwicklungshilfe zu Erfolgen geführt. Ebenso sollte man es auch mit den armen Familien halten. Nicht immer mehr Transferleistungen sind die Lösung, sondern das Bestehen auf Verantwortung. Die Wohlfahrtsreform unter dem linksliberalen Präsidenten Clinton, die Gelder für alleinerziehende Mütter an deren Nachweis eines Jobs koppelte, hat erfolgreich und nachhaltig Millionen Frauen aus der ererbten Armut erlöst. Für die Mütter hat die Reform geklappt, für junge Männer hat man noch keine solche Lösung gefunden. Zum Schaden der Kinder, denn die armen Väter können ihren Unterhaltspflichten nur selten nachkommen.

„Kreuzzügler gegen die Armut“, schreibt der New Yorker Armutsforscher Lawrence C. Mead, „haben insgeheim akzeptiert, dass ernsthafte Armut kulturell verwurzelt ist. Der Staat hat nirgendwo eine Handhabe gefunden, arme Erwachsene dazu zu bringen, regelmäßig zu arbeiten, Drogen und uneheliche Geburten zu vermeiden.“ Das dysfunktionale Verhalten von etwa fünf bis zehn Prozent der Bevölkerung zu verändern kann ewig dauern. Darum empfehlen Fachleute auch Investitionen in die Erziehung kleiner Kinder, um nach und nach die Verhaftung in den falschen Mustern aufzuheben.

Freilich kann der Mangel an einfachen Antworten uns nicht von der Fürsorge für die ärmsten Mitbürger entbinden, vor allem aber für deren Kinder, die unverschuldet in zerbrochene Familien geboren wurden. Denen wäre mit erstklassigen, kostenlosen Kindergärten und regelmäßigem Frühstück eher gedient als mit weiteren Transferleistungen, die weder zu ihrer Anregung noch zum Stillen ihres Hungers genutzt würden.



Text: F.A.S.
Bildmaterial: dpa